Neben dem diesjährigen (70.) Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges verlieh auch das Erscheinen von zwei neuen Büchern dem Ereignis Aktualität. Réka Marchut arbeitete unter dem Titel Töréspontok (Bruchlinien) die Bestrafung des Budapester Deutschtums in sechs Gemeinden der Budapester Region auf. László Orosz setzte in seinem demnächst erscheinenden Buch unter dem Titel Tudomány és politika (Wissenschaft und Politik) dem Leben und Wirken des auch mit Ungarn eng verbundenen Fritz Valvajec (mütterlicherseits donau-schwäbischer Abstammung wuchs er in Versec (Vršac, Serbien) im Banat auf), einstiger Leiter des Münchener Südost-Instituts, dem hervorragenden Kenner der Geschichte Südost-Europas ein Denkmal.
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Die beiden jungen Historiker erzählten, dass die Geschichte der Deutschen und der Ungarn im Wesentlichen eine tausendjährige fruchtbringende Koexistenz war. Ethnische Probleme warfen keinen Schatten auf ihre Beziehung, denn sie gab es im Mittelalter gar nicht. Die ethnische Zugehörigkeit wurde immer höheren Gesichtspunkten untergeordnet (dem Christentum, gemeinsamem Territorium, ständischer Zugehörigkeit). Es entwickelte sich ein Hungarus-Bewusstsein und als Teil dessen die Deutsch-Ungar-Auffassung, so dass unsere Deutschen sich, wenn auch nicht als Ungar, so doch wie jemand aus Ungarn fühlen konnten. Réka Marchut hob hervor: Die vor dem modernen Nationalismus aus den verschiedenen Ecken des damals noch nicht einheitlichen Deutschlands gekommenen Deutschen brachten ein lokales Identitätsbewusstsein mit, das sie in das Hungarus-Bewusstsein integrierten. Auf diese Weise wurde bei dem geografisch, gesellschaftlich und konfessionell heterogen zusammengesetzten Deutschtum dieses positive patriotische Gefühl bzw. die Interessen- und Wertegemeinschaft besonders stark, die sich zur Zeit des Dualismus erst recht vertiefte.
Anschließend befragte Gábor Ujváry, der mütterlicherseits ebenfalls deutsche Wurzeln hat, die beiden Kollegen über das Verhältnis zur offiziellen ungarischen Politik. Die Tragödie von Trianon führte in allen Bereichen zu radikalen Veränderungen bei den Nationalitäten, so auch bei den Deutschen. Den etwa zwei Millionen Deutschen nach der Volkszählung 1910 erlegte die in ihrer Engstirnigkeit und Unmenschlichkeit bis heute als Trauma wirkende, vergiftende Entente-„Regelung” schwere Verluste auf: Fast drei Viertel von ihnen wurden unter fremde Herrschaft außerhalb der ungarischen Landesgrenzen gezwungen, obendrein verlor das Deutschtum im verbliebenen verstümmelten Land gerade seine in Kultur und Identität stärkere Schicht (von Bürgern und Intellektuellen).
Durch Trianon zerfiel die tausendjährige Ordnung, die übernommenen Schicksals-gemeinschaften hörten auf zu existieren, die Assimilation beschleunigte sich, (so dass die Zahl der Deutschen innerhalb eines Jahrzehnts um 13 Prozent zurückging), und mit dem Generationswechsel trat auch ein Identitätswechsel ein. Das Deutsch-Ungar-Bewusstsein der Deutschen als Minderheit wurde langsam durch das Bewusstsein der deutschen Volksgemeinschaft bzw. das Südostdeutsche Bewusstsein abgelöst, das ihre Zusammengehörigkeit hervorhob. Das Bewusstsein der deutschen Zusammengehörigkeit begann auch auf dem Landesterritorium nach Trianon an Raum zu gewinnen, während die in Deutschland Studierenden mit radikaleren Ansichten heimkehrten, die von der sich zu dieser Zeit ausdehnenden völkischen Bewegung, die um die Vereinigung aller Deutschen bemüht war, weiter gestärkt wurde. Auch die 551.000 Deutschen im Mutterland brauchten einen geistigen Führer. Ihn meinten sie in der Person des hervorragenden Philologen und Germanisten Jakab Bleyer mit seinem Deutsch-Ungar-Bewusstsein zu finden, der bereits 1917 eine Programmerklärung mit dem Titel Das ungarländische Deutschtum verkündete. 1921 startete er eine Wochenzeitung der ungarischen Schwaben-Bewegung (Sonntagsblatt für das deutsche Volk in Ungarn). Eine ebenfalls bedeutende Rolle spielte auch der 1924 ins Leben gerufene Ungarländische Deutsche Volksbildungsverein – UDV.
Der Ausgang des Weltkrieges spaltete die Deutschen dermaßen, dass auch der spiritus rector Bleyer zwischen Hammer und Amboss geriet. Der aus einem Bauernjungen aus der Batschka zu einem angesehenen Professor emporgestiegene Bleyer war ein Patriot, ungarntreu und staatstreu. Als unerschütterlicher Anhänger der Prämissen des 19. Jahrhunderts und der Ausgeglichenheit durchwanderte er Deutschland für die Erhaltung der Staatseinheit. Die deutsche Bevölkerung formulierte lediglich Forderungen in Bezug auf Sprache und schulische Ausbildung, während sein Rivale Rudolf Brandsch die Autonomie-Bestrebungen unterstützte. Die Selbstbestimmung wechselte jedoch nach Trianon in eine andere Stimmung: Sie hatte plötzlich eine antinationale Schärfe, die Ungarn entluden ihre durch das Friedensdiktat ausgelösten Emotionen bei den Deutschen und schrieben die Verluste der vor 1918 aufnahmewilligen, toleranten Nationalitätenpolitik zu.
Die ungarische Öffentlichkeit, die wegen Trianon in einen beleidigten Schockzustand fiel, betrachtete auch die von Bleyer vertretene Politik zur Schaffung eines Gleichgewichtes und zur Befriedigung gemäßigter Nationalitätenansprüche als inakzeptabel, ja sogar als provokativ. All das stärkte auf natürliche Weise den radikalen Flügel innerhalb der deutschen Bewegung, der sich schon längst über die Ideen des aufAusgleich bedachten Bleyer und des selbst im Vergleich zu ihm spektakulär ungarnfreundlichen Gusztáv Gratz’ hinweggesetzt hatte.
Nach dem Tod Bleyers wurde Gratz allmählich marginalisiert, seine Position als Vorsitzender innerhalb des Vereins hielt er nur auf den Druck der Regierung aufrecht. Eine wirklich dynamische Entwicklung und Stärkung zeigte allerdings die radikale Linie der Gegenseite um Ferenc Basch, die die Notwendigkeit der Unterstützung von Außen, die Anpassung an das Dritte Reich und den Führer, ferner den Schutz der Gemeinschaft, d.h. der Mutternation, verkündete.
Anschließend lenkte Gábor Ujváry die Aufmerksamkeit auf das Schulwesen. Nach dem Zusammenbruch der schulischen Ausbildung unter den Nationalitäten hatte die Bethlen-Regierung 1923 (durch die Verordnung des Fachministers Kuno Klebelsberg) die Frage geregelt. Unter den Nationalitätenschulen der Typen A-B-C waren die ersten beiden Kategorien ziemlich unterrepräsentiert (A: Unterrichtssprache der Nationalität mit dem verbindlichem Unterricht der ungarischen Sprache; B: Der Unterricht verläuft jeweils zur Hälfte in der Nationalitäten- bzw. in ungarischer Sprache), mit ihrer Proportion von 75% kann der Typ C (Ungarisch als Unterrichtssprache mit verbindlichem Unterricht der Nationalitätensprache) kaum als wirkliche Nationalitätenschule betrachtet werden. Die Gömbös-Regierung war darum bemüht, bei diesem Problem Abhilfe zu schaffen: Der einheitliche Typ B bedeutete in der Tat einen Fortschritt im Vergleich zum Typ C, der die Mehrheit ausmachte. (1941 wurde dann das System von 1923 deshalb wieder eingeführt, damit der von der deutschen Seite geforderte Typ A erneut aufscheinen sollte.)
Die Regelung der Schulfrage lehnt sich im Übrigen an den Eindruck an, der im Zusammenhang mit der Regelung der übrigen Fragen des Nationalitätendaseins entsteht: Für die Revision wurde das Deutschtum im Austausch den Ansprüchen Berlins und des von ihm bewegten Volksbundes ausgeliefert. Das Memorandum vom Januar 1939, das mit Bethlen und der sich um ihn gruppierenden extremrechts-feindlichen christlichen Rechten verbunden werden kann – beschuldigte die Imrédy-Regierung direkt der nationalitätenpolitischen Schädigung.
Die Akteure des Diskussionsabends gingen bei der Beantwortung der Fragen der Zuhörer auch auf Fragen der Volksbund-Apologetik ein. Ferner wurden die Budapester deutsche Reichsschule sowie die Volksschriftsteller als Thema angeschnitten, die sich der damaligen offiziellen Auffassung zur erwünschten Assimilation des Deutschtums entgegenstellten.